Sicherlich erscheint der Titel des ersten Artikels ein wenig unverständlich und beide Aussagen lassen sich scheinbar inhaltlich nicht zusammenbringen. Aber ich möchte mit diesem Artikel über etwas schreiben, das eine zentrale Rolle im Leben eines jeden Menschen spielt. Es handelt sich um etwas, was dabei hilft, sich selbst zu verwirklichen und die eigenen Träume wahr werden zu lassen. So kann das eigene Wesen vollständig zur Entfaltung gebracht werden und der Mensch in seiner Interaktion mit seinen Mitmenschen und der Umwelt Grossartiges hervorbringen, welches beiden – Mensch und Umwelt – zugutekommt. Die Selbstverwirklichung als grundlegendes Motiv menschlichen Handelns dient dazu, die jedem Menschen innewohnenden Eigentümlichkeiten seiner Individualität zu entdecken, zu entwickeln und diese für ein sich selbst gesetztes Ziel nutzbringend einzusetzen.
Voraussetzung hierfür ist das Bewusstsein dafür, dass man als Mensch im Allgemeinen und als Gottergebener (deutsch für Muslim) im Speziellen Herr des eigenen Schicksals ist und dass die Zukunft des Menschen im Gegensatz zu einem angeblichen Ausspruch des Propheten1 eben nicht bereits seit seiner Geburt von Gott vorherbestimmt ist. Sie ist stattdessen nach den eigenen Vorstellungen und Plänen formbar. Somit wird mit Gottes Hilfe ein Zustand erreicht, der das eigene Selbstwertgefühl ins Unermessliche steigen lässt, von hohen Nutzen für das Allgemeinwohl sein kann – und das in jeglicher Hinsicht, denn das Streben des Menschen bezieht sich nicht allein auf das Religiöse – und der Bestimmung des Menschen, wie sie in der Offenbarung Gottes geschrieben steht, entspricht. Dieser Zustand geht auch mit einer gewissen Genugtuung einher, dass man sich von dieser fatalistischen Gesinnung entfernt hat, die in der Tradition viele Wurzel geschlagen hat und die sich in den Köpfen vieler Menschen auf einer derart unauflösbar erscheinenden Art und Weise festgesetzt hat, dass man nicht mehr bereit ist, die eigene Haltung zu überdenken, selbst wenn sie offensichtlich schädlich für sich selbst erscheint.
Gemäss der traditionellen Denkweise in der muslimischen Gemeinschaft hat man sich längst daran gewöhnt, die eigene Verantwortung abzugeben und in der Regel dem Scheikh, dem Imam oder, allgemein gesprochen, einer bestimmten religiösen Autorität zu folgen. Zum Beispiel scheint es notwendig zu sein, sich anhand der sich stets weiter entwickelnden Technologie und der wachsenden Möglichkeiten unserer Zeit immer wieder die Frage zu stellen, ob dieses oder jenes denn nun haram (verboten) oder halal (erlaubt) ist, anstatt für sich selbst das Recht zu sehen, rein pragmatisch entscheiden zu dürfen, inwieweit es nützlich für das eigene Wohl und das der Anderen ist. Diese ängstliche Haltung und die pessimistische Weltsicht ist es, die dafür sorgt, dass unüberwindbar erscheinende Schranken gesetzt werden, die die muslimische Gemeinschaft in der Interaktion mit der restlichen Welt zurückwerfen.
Diese Unklarheit selbst gegenüber den einfachsten Angelegenheiten in der Religionsausübung, wie die Art und Weise der rituellen Waschung oder des Gebets, sorgt dafür, dass man sich scheut, eigene Entscheidungen zu treffen. Denn, auch wenn diese Riten der Religionsausübung angesichts einer Vielzahl von Gelehrtenmeinungen und Auslegungsweisen der jeweiligen Rechtsschulen zugegebener Weise unübersichtlich erscheinen, so besteht immer die Angst, dass eine rituelle Handlung, die auf eine eigene Entscheidung basiert, von Gott nicht angenommen werden würde. Diese Gesinnung bewirkt, dass festgefahrene und althergebrachte Denkweisen und Handlungsmuster in der muslimischen Gemeinschaft immer präsent bleiben, sodass so mancher Neuankömmling in der Gottergebenheit (deutsch für Islam), der in seinem sonstigen Leben noch so aufgeklärt und selbstbewusst wirkt, sich selbst diesem Verhaltensmuster ausgesetzt sieht und Gefahr läuft, dieses früher oder später zu übernehmen.
Diese Denkweise hinterlässt auch auf politischer Ebene ihre Spuren, denn muslimische und allen voran arabische Gesellschaften sind es gewohnt, einem „starken Führer“ zu folgen, der seine Landsleute unter dem Deckmantel des Islams zu vereinen scheint. Die Menschen erwarten von ihrem Staatsoberhaupt, dass er sie auf dem Weg zu einer modernen Zivilisation nach westlichem Vorbild in die richtige Bahn lenkt und ihnen das Gefühl von Sicherheit und Stabilität vermittelt. In Wirklichkeit kommt hier jedoch das Prinzip des Hirten und der Untertanen zu tragen. Die Menschen in solchen Gesellschaften werden nicht als unabhängige Individuen mit vollen Rechten betrachtet, sondern es sind Massen, die sich dem Kollektiv verbunden fühlen, der sogenannten umma (arabisch für die Gemeinschaft der Gläubigen). Sie nehmen ihre Rechte nicht als solches wahr, sondern eher als Pflichten gegenüber dieser umma. Somit wird der Fokus nicht auf den Einzelnen und seiner Selbstverwirklichung gelegt. Vielmehr hat die Erfüllung der ihm aufgelegten Pflichten höhere Priorität. Diese Pflichten erstrecken sich oft über weite Teile der tradierten Religion und vermitteln ein Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser umma. Es scheint in den muslimischen Gesellschaften wie auch in der muslimischen Diaspora einen Konsens darüber zu geben, dass es von grosser Bedeutung ist, dass man betet und wie man betet, genauso auch mit der Gebetswaschung, dem Fasten und viele andere Bereiche der religiösen Praxis.
Die grundlegende Basis hierfür liefert die weitläufig bekannte Überlieferung über die Erfüllung der sogenannten „5 Säulen des Islam“2. Diese beziehen sich jedoch stets auf den formalen Aspekt der Religionsausübung, der auch noch in der Art und Weise der Ausübung praktisch von aussen vorgegeben wird. Man kann sich vorstellen, dass es für viele Machthaber ein Leichtes ist, seine eigenen Gefolgsleute unter anderem auf diese Weise unter Kontrolle zu halten.
Man mag sich nun die Frage stellen, wie es sein kann, dass sich die muslimische Weltgemeinschaft selbst diese Ketten angelegt oder anlegen lassen hat, von denen sie sich nicht lösen kann, wenn sie doch die Offenbarung Gottes haben, in der sie sich gleichzeitig als „beste Gemeinschaft“ sehen, „die für die Menschen hervorgebracht wurde, die das Gute gebietet und das Schlechte verwirft.“3 In derselben Offenbarung steht, dass Gott zu Güte und Gerechtigkeit aufruft4 und sich jedoch die muslimischen Gesellschaften im Ranking, in der die Länder der Welt nach dem Grad der Umsetzung der individuellen Menschenrechte gemäss UN-Charta nacheinander aufgelistet sind, auf den hinteren Plätzen befinden. Es ist auch die gleiche Offenbarung, in der geschrieben steht, dass der Mensch als Sachwalter Gottes auf Erden5 die volle Verantwortung für sich und den Umgang mit seiner Umwelt trägt und prinzipiell dazu in der Lage ist, sein eigenes Paradies zu erschaffen. Eine mögliche Ursache für diese Diskrepanz ist womöglich eine ebenfalls bekannte angebliche Überlieferung des Propheten, nach der es sechs Grundsätze des Glaubens (Iman) gibt:
- der Glaube an Gott
- an Seine Engel
- an Seine Schriften
- an Seine Gesandten
- an den Jüngsten Tag
- an die Vorherbestimmung (al-qadar), an dessen gute und schlechte Seite6
Vor allem der letzte Punkt der Vorherbestimmung ist einer der Mitauslöser für die fatalistische Haltung weiter Teile der muslimischen Gemeinschaft angesichts der wirtschaftlichen und politischen Erfolge, die die westliche Welt erzielt, und des zivilisatorisch höher entwickelten Niveaus der westlichen Welt. Dabei hat al-qadar aus der koranischen Perspektive betrachtet nichts mit irgendeiner Form der Vorherbestimmung zu tun. Womit al-qadar genau zu tun hat, soll in einem späteren Artikel thematisiert werden.
Ein weiterer wichtiger arabischer Begriff, der überaus häufig in der Debatte im Zusammenhang mit der Vorherbestimmung auftaucht, ist in einer gängigen Übersetzung von Vers 183 der Sure 2 enthalten:
2:183 O, die ihr glaubt, vorgeschrieben (kutiba – كُتِبَ) ist euch das Fasten, so wie es denen vor euch vorgeschrieben war, auf dass ihr gottesfürchtig werden möget.
Bubenheim und Elyas
Das, was im zitierten Vers unterstrichen ist, kommt im Arabischen aus dem Verb kataba (كَتَبَ), was im Allgemeinen mit „schreiben“ übersetzt wird. Andere gängige Übersetzungen im arabischen Sprachgebrauch für dieses Wort sind „etwas vorschreiben“ oder „etwas für jemanden vorherbestimmen“, wie sie auch aus Vers 51 der Sure 9 herausgelesen werden:
9:51 Sprich: Uns wird nur das treffen, was Allah für uns bestimmt hat (kataba – كَتَبَ). Er ist unser Schutzherr. Auf Allah sollen sich die Gläubigen verlassen.
Bubenheim und Elyas
Daher wird auch im arabischen Sprachgebrauch die zukünftige Braut oder der zukünftige Bräutigam als Mektub bezeichnet, weil der- oder diejenige für den jeweils anderen für die Hochzeit fest bestimmt ist. Oder wenn man ein Feld erntet, so gilt das Ergebnis der Ernte, unabhängig davon wie hoch die Ernte ausfällt, auch als von Gott vorherbestimmt (mektub). Gleiches gilt beispielsweise auch für das Essen, das man jeden Tag zu sich nimmt, oder für den jeweiligen beruflichen Werdegang. Es ist nun ein Leichtes, sich auszudenken, welchen Einfluss ein solches Verständnis der Offenbarungsschrift auf das Denken und Verhalten der Menschen nehmen kann.
Schauen wir nun etwas ausführlicher an, wie das Wort kataba (كَتَبَ) in einem der bekanntesten arabischen Lexika, dem lisan-ul-arab7, in seiner Grundbedeutung definiert wird. Demnach ist die Tätigkeit beziehungsweise der Prozess des kataba gleichzusetzen mit dem Prozess der Sammlung von verschiedenartigen Dingen mit dem Ziel der Vermittlung einer neuen Bedeutung. Bezogen auf das Schreiben als primäre Übersetzung von kataba ist es das Sammeln von Buchstaben, die zu Wörtern gesammelt werden, um aus diesen Wörtern einen Satz zu kreieren, der eine bestimmte Aussage enthält. Wenn ich also folgende vier Wörter hintereinander reihe: „ich“, „gehe“, „zur“ und „Arbeit“, so möchte ich damit aussagen, dass ich die Absicht habe, meinem Wunsch nach der Erfüllung meiner beruflichen Verpflichtung nachzugehen. Der Satz „ich gehe zur Arbeit“ beinhaltet also eine Bedeutung, die die jeweiligen Wörter einzeln betrachtet nicht hergeben können.
So ist auch mit dem Schreiber (al-katib – الكَاتِب) nicht derjenige gemeint, der ein Buch – rein auf die Tätigkeit der Schriftsetzung bezogen – selbst schreibt, sondern derjenige, der seine Gedanken und Überlegungen in das Geschriebene einfliessen lässt und so ein Buch fertig stellt, das einen Bezug zu einem konkreten Sachgebiet herstellt und seine eigenen Erkenntnisse beinhaltet. Der Schriftsteller verfasst das gedankliche Gerüst in Form eines Rohmanuskripts, indem er einzelne Informationen in Form von Wörtern, Sätzen, Absätzen und Kapiteln sammelt. Der Verlag kümmert sich in der Regel um das Layout des Buchs und druckt seine Bücher dann zu Tausenden Exemplaren.
Wenn man sich, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die Sammlung der angeblichen Aussprüche des Propheten im Sahih al-Buchari8 anschaut, so stellt man fest, dass verschiedene Themenbereiche, wie Fasten, Beten oder die Gebetswaschung, zu sogenannten kutub (كُتُب) zusammengefasst sind. Kutub ist die Mehrzahl von kitab (كِتَاب), welches wiederum ein Substantiv ist, das auf die Wurzel kaf-ta-ba zurückzuführen ist. Das bedeutet, die verschiedenen Themenbereiche in dieser Sammlung stellen keine eigenen Bücher dar, sondern stellen vielmehr thematisch eine Einheit dar, sodass alles, was mit dem Thema Gebet zu tun hat, in diesem „Buch“ bzw. kitab zu finden ist, genauso mit dem Fasten und allen anderen Themenbereiche.
Schulfächer, die in der Schule unterrichtet werden, sind auch kutub. „Bücher“ für kutub wäre in diesem Falle vollkommen unzutreffend! Denn in den jeweiligen Fächern wird thematisch nur das unterrichtet, was dazugehört. So werden in Physik beispielsweise Astrophysik, Optik und die Relativitätstheorie gelehrt. Zur Chemie gehören Teilbereiche wie die organische, die anorganische und die analytische Chemie. Dasselbe gilt auch für die übrigen Schulfächer. Würde die organische Chemie in Physik gelehrt werden, würde die Benennung des Fachs beziehungsweise des kitab „Physik“ keinen Sinn ergeben. Das wäre dasselbe, als würde man sagen: „ich schlage zur Arbeit“. Denn, wenn ich die Absicht habe, meinen Wunsch nach der Erfüllung meiner beruflichen Verpflichtung nachzugehen, und dies kommunizieren möchte, so passt das Wort „schlage“ nicht in diesen Kontext. Der Satz beziehungsweise der kitab ergibt so keinen Sinn.
Wir sehen, dass das arabische kataba, welches für gewöhnlich mit „schreiben“ übersetzt wird, und das darauf aufbauende Wort kitab, welches als „das Buch“ oder „die Schrift“ bekannt ist, äusserst vielfältige Bedeutungen annehmen kann. Aber zu keinem dieser Bedeutungen gehört: „etwas bestimmen/vorschreiben“ oder „etwas vorherbestimmen“ im Sinne einer Vorhersage Gottes, wie das Leben des einzelnen Menschen verlaufen wird. Das gibt die Grundbedeutung des Worts nicht her. Wie wir gesehen haben, geht es bei kataba um die Sammlung von Dingen oder Informationen zur Verdeutlichung eines Sachverhalts oder zum Hervorbringen einer neuen Information. Eine Verpflichtung in irgendeiner Form ist in keinster Weise inkludiert. Folgende Beispiele aus der Offenbarung sollen hierfür zur Verdeutlichung von kataba herangezogen werden:
3:53 Unser Herr, wir glaubten an das, was du herabsandtest, und wir folgten dem Gesandten, so führe uns zusammen (fa´ktubna – فَاُكْتُبْنَا) zu den Bezeugenden.
eigene Übersetzung
Die Sammlung von Leuten, die sich „die Bezeugenden“ nennen, stellt ein kitab dar. Um ein solcher Bezeugender zu werden, bedarf es gemäss diesem Vers zweier Kriterien:
- der Glaube an das Herabgesandte
- die Folgeleistung dem Gesandten gegenüber
Wenn ich beide Kriterien in mir vereine, gehöre ich demnach mit Gottes Hilfe zu den Bezeugenden.
3:145 Es gebührt keiner Seele zu sterben, ausser mit der Erlaubnis Gottes, als ein zurückgestelltes Ereignis (kitaban – كِتَابًا).
eigene Übersetzung
Hier geht es um den kitab (das Thema) des Todes. Der Tod ist ein Ereignis, das eintritt, wenn eine Sammlung von Faktoren, die dessen Eintritt begünstigen, in ausreichendem Masse vorhanden sind und ihre Wirkung im Verbund entfalten. Zu diesen Faktoren gehören objektiv feststellbare körperliche und psychologische Elemente, von denen jede für sich betrachtet nicht unbedingt ausreichend für den Eintritt des Todes sein müssen. Zu diesen Faktoren gehören auch Fremdeinwirkungen, die sich auf das Leben eines Menschen auswirken können. Wenn jemand beispielsweise von einem Auto angefahren wird, so bedeutet dies noch nicht zwangsläufig seinen Tod, es sei denn, die Person war vorher schon auf irgendeine Art körperlich beeinträchtigt, sodass er diesen Zwischenfall im Verbund mit dieser Beeinträchtigung nicht überlebt. Aber selbst dann war für seinen Tod nicht allein das Angefahrenwerden von einem Auto der Auslöser für seinen Tod, sondern auch seine körperliche Beeinträchtigung. Bei einem gesunden Menschen, der von einem Auto angefahren wird, kommt es dementsprechend auch darauf an, wie der weitere Verlauf nach dem Unfall ist, also wie schwer seine Verletzungen sind, ob er erste Hilfe bekommt, wann die Sanitäter eintreffen, wie er im weiteren Verlauf behandelt wird etc. Damit der Tod eintritt, müssen all diese Faktoren auf eine bestimmte Weise zusammenspielen.
2:183 O, die ihr glaubt, ans Herz gelegt (kutiba – كُتِبَ) ist euch nun das Fasten, so wie es denen vor euch ans Herz gelegt wurde, auf dass ihr achtsam werden möget.
eigene Übersetzung
Diese Übersetzung des Verses, welcher bereits oben angeführt wurde, gibt einen Einblick darüber, welche Bedeutungsvielfalt basierend auf seiner Grundbedeutung dem Wort kataba innewohnt. Das Ziel des Fastens ist laut diesem Vers die Achtsamkeit. Sie stellt den kitab, den Oberbegriff dar. Das Fasten soll dabei helfen, achtsamer zu werden. Nun ist das Fasten freilich nicht das einzige Mittel zur Erlangung von Achtsamkeit. Denn auch die Meditation, bewusst geführte Atemübungen oder Yoga helfen dabei, den achtsamen Umgang mit sich selbst und auch mit seiner Umwelt lernen. Es ist ein grosser Irrtum zu denken, dass beim Fasten von einer unbedingt zu erfüllenden Pflicht die Rede ist, die dem Gottergebenen auferlegt wird. Jedoch empfiehlt die Offenbarung schon, dass es besser ist, zu fasten, wenn man dazu körperlich und geistig in der Lage ist.9 Aber zu einer Pflicht gehört grundsätzlich eine Sanktionierungsmassnahme, die anzuwenden ist, wenn man der Pflicht nicht nachkommt. Andernfalls ergibt eine Festlegung als Pflicht keinen Sinn. Jedoch sucht man solch eine Form der Sanktionierung beim Verstoss gegen die „Fasten-Pflicht“ in der Offenbarung vergeblich.
In Vers 2:183 wird folglich verkündet, dass das Fasten neben den anderen, eben genannten Möglichkeiten auch zu den wirksamen Formen des Erlernens von Achtsamkeit gehört. Dem Gottergebenen wird es förmlich ans Herz gelegt. Dieses „Ans-Herz-Legen“ scheint demnach eine durchaus treffende Übersetzung für diesen Vers zu sein, denn nur aus freiem Willen und der unabhängigen und bewussten Entscheidung, zu fasten, vollzieht man diese Form der rituellen Praxis mit dem Ziel, eine höhere Stufe der Achtsamkeit zu erlangen. Dies alles unter der Voraussetzung, dass man gesund und fähig dazu ist. Eine von aussen vorgegebene Pflicht reduziert den Wert der eigenen Entscheidung, wenn man sie der Form halber absolviert. Vielmehr ist das Fasten etwas, was man für sich selbst entdecken muss. Die Erkenntnis, die man gewinnt, wenn man feststellt, dass das Fasten einem gut tut und einen zu einem besseren Menschen macht, ist durchaus sehr wertvoll. Stattdessen führt eine zu absolvierende Pflicht dazu, dass das Fasten mit der Zeit ihren Zauber und ihren Wert verliert, wenn man immer mehr innerliche Anstrengungen unternimmt, die blosse Form erhalten zu wollen. Gott ist Sich dessen bewusst, dass das Fasten nicht einfach zu vollziehen ist, dennoch ermutigt Er die Gottergebenen dies aus freien Stücken zu tun. Denn dadurch geniesst der Gottergebene Gottes Nähe, Fürsorge und Barmherzigkeit.
2:186 Und wenn dich Meine Diener nach Mir fragen, so bin Ich nahe. Ich erhöre den Ruf des Rufenden, wenn er nach Mir ruft. So sollen sie nun auf Mich hören und an Mich glauben, auf dass sie besonnen handeln mögen.
Bubenheim und Elyas
Anhand dieser Übersetzungsmöglichkeiten sehen wir, dass dem Wort kataba eine grundlegende und rein methodische Funktion zugutekommt. Keine der Übersetzungen hat auch nur im Geringsten mit dem Erlass einer Vorschrift oder der Festsetzung einer Vorherbestimmung zu tun. Denn, auch wenn das falsche Verständnis des Worts kataba als Vorschrift oder Vorherbestimmung mittlerweile einen festen Platz in der alltäglichen arabischen Sprache gefunden hat, so ändert dies nichts an der Wahrheit, dass die ursprüngliche Verwendung eine andere ist.
Die Offenbarung kennt einen anderen Begriff dafür, wenn es darum geht, jemandem eine Pflicht aufzuerlegen. Das Wort fard (فَرْض), welches auf die Wurzel fa-ra-dad (ف ر ض) zurückzuführen ist, findet sich beispielsweise in folgenden Stellen:
28:85 Gott, Der dir den Koran verkündet und dich verpflichtet (farada – فَرَضَ) hat, ihn zu verkünden, wird dich gewiss an einem bestimmten Termin zurückbringen. (…)
eigene Übersetzung
33:50 (…) Es ist bekannt, was wir ihnen in Bezug auf Ehefrauen und denen, mit denen ihr Eide abgeschlossen habt, vorgeschrieben (faradna – فَرَضْنَا) haben. (…)
eigene Übersetzung
Die Vorstellung, dass das Schicksal des Menschen bereits von Geburt an in Stein gemeisselt ist und dass seine Versorgung im Leben, der Zeitpunkt seines Todes, seine Taten und die Tatsache, dass er entweder zu den Glücklichen oder zu den Unglücklichen gehört, im Mutterleib vorherbestimmt werden10, hat keine Grundlage in der Offenbarung Gottes und ist somit auch in der Anschauung der Gottergebenheit nicht zu akzeptieren. Solch eine Gesinnung trägt dazu bei, dass der Mensch sich seiner vollen Verantwortung für sich selbst nicht bewusstwird und er weniger aus seinem Leben macht, als er in Wirklichkeit dazu in der Lage wäre. Es sind in der Regel Menschen, die lieber ihre Hände in den Himmel heben und Gott um Dinge bitten, die sie längst selbst hätten erreichen können, wenn sie sich ihres Potenzials voll bewusst wären und wenn ihnen klar wäre, dass sie zu weit mehr in der Lage wären, als sie von sich selbst denken. Denn, auch wenn es richtig ist, in einer Notlage Gott um Hilfe zu bitten und sich Seinen Beistand zu erhoffen, so sollte man zumindest erst einmal das Kamel anbinden.11
Der Mensch ist dazu in der Lage, Grosses zu vollbringen, indem er in sich verborgene Talente oder Fähigkeiten entdeckt und sie bis zur Perfektion weiterentwickelt. Auch ist es an den Menschen, ihre eigene Freiheit zu entdecken und sich nicht von anderen Menschen verunsichern zu lassen, in dem man vor sich selbst Schranken aufstellt, von denen man denkt, man könne sie niemals überwinden. Man sollte sich auch nicht scheuen, Pseudo-Wahrheiten wie „Den Koran können nur Gelehrte verstehen!“ und „Ohne die Überlieferungen ist der Islam unvollständig!“ zu hinterfragen. Denn einerseits sind es meistens diejenigen, die die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal längst an andere Menschen abgegeben haben und an solche Aussagen glauben, die sich nicht ausmalen können, welches Unrecht sie sich selbst damit in Wirklichkeit antun. Andererseits sehen wir anhand des oben behandelten Beispiels über das Wort kataba, dass man sehr wohl in der Lage ist, selbstständig und unvoreingenommen von der Offenbarung Gottes – und zwar alleine von der Offenbarung Gottes! – zu lernen, wenn man seinen Geist befreit, auf sein Herz hört und eine eigene Methodik entwickelt, um Einsichten zu gewinnen, von denen jeder profitieren kann.
8:24 O, die ihr glaubt! Folgt Gott und Seinem Gesandten, wenn Er euch zu dem aufruft, was euch Leben gibt! (…)
Bubenheim und Elyas
Daher ist es das erklärte Ziel des Vereins, zur Aufklärung beizutragen und anhand der Offenbarung Gottes einen Weg aufzuzeigen und eine Methode zu entwickeln, mit der man zu Erkenntnissen kommt, die für uns, die Menschen und Gesellschaften in der Welt des 21. Jahrhunderts, relevant sind. Diese Erkenntnisse bringen uns auf eine Stufe der Menschlichkeit hinauf, die uns dazu befähigt, unser wahres Potenzial, sowohl auf weltlicher als auch auf religiöser Ebene, zu erkennen und zur Geltung kommen zu lassen, sodass jeder von uns seinen Weg zur Selbstverwirklichung findet – gemäss einer bekannten Redewendung: jeder ist seines eigenen Glücks Schmied!
Fussnoten:
1 An-Nawawi, 40 Hadithe, Hadith Nr. 2: „Eines Tages, während wir bei Allahs Gesandtem (…) sassen, erschien ein Mann vor uns (…). Er sagte: ‚Erzähl mir von Iman (Glaube).‘ Er sagte: ‚Du sollst an Allah glauben, Seine Engel, Seine Bücher, Seine Propheten, und den Letzten Tag, und an die Göttliche Vorsehung, das Gute und das Böse davon.› (…)“
2 Sahih al-Bukhari: Band 1, Buch 2, Nummer 7
3 Koran 3:110
4 Koran 16:90
5 Koran 2:30
6 An-Nawawi: 40 Hadithe, Hadith Nr. 2
7 Wörtlich „die Zunge der Araber“, veröffentlicht im Jahre 1290 von Ibn Manzur (1233 – 1311), ist neben dem tadsch-al-arus von Ibn Murtada das bekannteste und umfangreichste Wörterbuch der arabischen Sprache
8 Das Sahih al-Buchari ist das Hauptwerk des sunnitisch-islamischen Gelehrten al-Buchari (810-870) mit einer Sammlung von mehr als 2800 Überlieferungen über den Propheten Mohammed (ohne Wiederholungen). Es geniesst im sunnitischen Islam höchste Autorität neben dem Koran.
9 https://www.alrahman.de/beitrag/die-vorzuege-des-fastens/
10 An-Nawawi: 40 Hadithe, Hadith Nr. 2
11 Ein bekannter Spruch im arabischen Raum, sinngemässe Übersetzung: „Ein Junge vertraute auf Gott und liess sein Kamel am Abend stehen, ohne ihn anzubinden. Er legte sich hin und schlief. Am nächsten Morgen war das Kamel verschwunden. Er beschwerte sich bei Gott: ‚Ich habe Dir vertraut und nun dies…‘ Dies hörte ein alter Beduine und sprach zu ihm: ‚Vertraue auf Gott, aber binde zuerst dein Kamel an.‘“ – ein Appell, die eigenen Möglichkeiten voll auszuschöpfen, bevor man Gott um Hilfe bittet
3 Kommentare
Sandy · 7. April 2020 um 8:06
Liebes Alrahman – Team,
ich verfolge jedes Mal mit großem Interesse Ihre Beiträge und ich finde sie außerordentlich bereichernd!
Ich kämpfe jedoch mit Gottes Ausssage, der Koran sei für alle verständlich. Und auch in vielen Artikeln wird mir immer wieder meine Machtlosigkeit im Umgang mit der Schrift verdeutlicht. Ich fühle mich abhängig von Übersetzern der Worte. Die Bedeutungsanalyse wesentlicher/tragender Worte bleibt mir untersagt. Außer, ich entscheide mich für ein Studium der arabischen Sprache. Ich denke, dass es für mich und für viele andere Nicht-arabischsprachige Menschen nicht möglich ist, dieses Studium in einem erforderlichen Maße zu betreiben. Somit bleibt mir lediglich die Hoffnung, dass Gott mich auf meiner Suche nach der Wahrheit an die «richtigen» Übersetzer geraten lässt.
Ich danke Ihnen.
Vorstand · 8. April 2020 um 19:10
Der Friede sei mit Ihnen, liebe Sandy.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung und wir bedanken uns recht herzlich für Ihr Kompliment.
Was die Aussage «der Koran sei für alle verständlich» anbelangt, so ist diese erst einmal grundsätzlich richtig (54:17, 54:22, 54:32, 54:40). Der Koran ist für alle zugänglich und bedarf zur Wahrheitsfindung keiner Sekundärquelle.
Doch sind wir uns gleichzeitig im Klaren darüber, dass man für sich selbst eine Methode finden muss, um an brauchbare Lehren aus dem Koran zu kommen. An einigen Stellen gelingt das in der Regel relativ einfach, an anderen Stellen gestaltet sich das schwieriger.
Der vorliegende Artikel ist der Anfang einer Serie vieler weiterer Artikel, denen eine bestimmte Methodik zugrunde liegt, die dabei helfen soll, Licht ins Dunkel zu bringen. Dabei wird zunächst auf zentrale Begriffe im Koran eingegangen, die massgeblich für die heutige islamische Weltanschauung sind. Diese werden analysiert und in einem gottergebenen Kontext, welche auf Vernunft und Hingabe basiert, implementiert. Oft ist es so, dass diese Begriffe durch die islamische Weltanschauung auch im alltäglichen Sprachgebrauch oft eine andere, z. T. irreführende Verwendung haben. Eine Analyse dieser Begriffe wird, so Gott will, neue Erkenntnisse bringen und neue Möglichkeiten öffnen.
Anschliessend wird eine zeitgemässe Herangehensweise erläutert, mit der man mit einem Minimum an Arabisch-Kenntnissen zu nützlichen Erkenntnissen kommen kann, ohne dem Verständnis des Übersetzers ausgeliefert zu sein.
Dementsprechend werden in Zukunft weitere Artikel veröffentlicht werden, die Ihnen auf Ihrem Weg, so Gott will, helfen mögen.
Liebe Friedensgrüße
Das Alrahman-Team
Abdulqadir · 29. Februar 2024 um 15:17
Salam, Salam,
mit Verlaub ist ihr Gedanke wie Erklärung unvollständig. Möchte ich beispielsweise ausdrücken, dass «er dazu vorherbestimmt war», dann kann und darf wie folgt formuliert werden:
كُتِبَ عَلَيْهِ ذَلِكَ
und daher ist die Übersetzung «[…] Euch ist vorgeschrieben, zu fasten […]» von «كُتِبَ عَلَيْكُمُ االصِّيَام» völlig legitim und richtig. Ihre eigene Übersetzung «O, die ihr glaubt, ans Herz gelegt (kutiba – كُتِبَ) ist euch nun das Fasten, so wie es denen vor euch ans Herz gelegt wurde, auf dass ihr achtsam werden möget.» ist kreativ, jedoch kommt das Wort Herz im Original nicht vor, daher – wie bei allen Übersetzungen – ist dies nicht nur ihre Übersetzung sondern ebenso ihre eigene Auslegung. Besonders bei dem Hinzufügen von Wörtern, sollte dieses dem Leser kenntlich gemacht werden. Ferner widersprechen Sie ihrer eigenen Erklärung vom Verb k-t-b, wenn Sie diese nun mit «(ans Herz) legen» übersetzen.
WaAllahu Alam.
Beste Grüße und Salam, Salam.