In diesem Artikel widmen wir uns nun einem weiteren Aspekt, der in direktem Zusammenhang mit der Selbstbestimmung des Menschen, die wir bereits im ersten Artikel thematisiert haben, steht. Dieser Aspekt steht ebenfalls sinnbildlich dafür, wie man durch ein falsches Mindset und ein verzerrtes Verständnis der dazugehörigen arabischen Begriffen, die in der Offenbarung Gottes verwendet werden, zu falschen Schlussfolgerungen kommt, die letztendlich eine mögliche Ursache für die übermässige Passivität und die fatalistische Gesinnung weiter Teile der islamischen umma darstellen. Auch hier hat sich im Laufe der Zeit dieses falsche Verständnis der Begriffe gebildet, welches sich schliesslich über Jahrhunderte im kollektiven Gedächtnis der Muslime etabliert hat, sodass es einem Muslim heutzutage ungewöhnlich erscheint, dass sich hinter diesen Begriffen eine andere, elementar wichtige Bedeutung im Rahmen der Gottergebenheit verbergen kann. Eine Analyse dieser Begriffe in diesem Artikel liefert eine interessante Sichtweise und führt zu einem der grundlegenden Themen der Offenbarung Gottes: die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.

In der Weltanschauung der tradierten islamischen Religion hat das Prinzip des qadâ› und qadar eine hohe Bedeutung. Es beinhaltet die Vorstellung, dass Gott in seiner Allmacht und Seinem vollständigen Wissen von allem, was auf der Welt existiert, zuallererst den Stift erschuf, noch bevor Er das Universum erschuf. Diesem Stift befahl Er, all das aufzuschreiben, woraus die Welt ihrem Wesen und ihrer Beschaffenheit nach bestehen wird. Gleichzeitig sollte der Stift aufschreiben, wie der Mensch erschaffen werden wird, und schliesslich auf einer höchst detaillierten Art und Weise das schriftlich fixieren, was jeder Mensch im Laufe seines Lebens beginnend mit dem ersten Tag als Neugeborener an Nahrung zu sich nimmt, an Flüssigkeit aufnimmt, welchen beruflichen Weg er im Erwachsenenalter einschlagen wird, ob er Familie gründen wird, wie viele Kinder er haben wird und auch wie seine religiöse Laufbahn aussehen wird. Es ist sozusagen ein Drehbuch, das Gott vor der Erschaffung der Welt geschrieben haben soll, in dem alle Einzelheiten des Lebens und die Taten aller Menschen bereits im Voraus festgelegt werden. Dieses Drehbuch stellt Gottes Wissen von allem dar (qadâ›) und das Inkrafttreten dieses Wissens wird als qadar bezeichnet. Zudem sehen andere islamische Gelehrte qadâ› und qadar als eine Einheit. Das heisst, die Bedeutung der Wörter unterscheiden sich für sie wenig bis gar nicht voneinander.

Die Vorstellung von qadâ› und qadar als „Drehbuch Gottes“ entstand erst Jahrzehnte nach dem Ableben des Propheten Mohammed infolge einer breiten theologischen Diskussion über die Rolle Gottes, Seiner Allmacht und Seinem grenzenlosen Wissen in der Welt. Anhänger der Mu´taziliten1, die ihren Anfang bereits zu Beginn des 8. Jahrhundert hatten, akzeptierten diese Ansicht nicht. Sie vertraten wiederum die Vorstellung, dass die Taten der Menschen nicht bereits vor der Erschaffung festgeschrieben seien, sondern vielmehr, dass der Mensch zum Zeitpunkt der Tat diese erst selbst erschaffe. Diese Idee steht der Vorstellung von der Vorherbestimmung diametral entgegen. Sie konnte sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte innerhalb der islamischen umma nicht durchsetzen. Denn schon zur Zeit der Ummayaden-Dynastie (661-750 n. Chr.) nutzten die damaligen Machthaber die Vorstellung der Vorherbestimmung und instrumentalisierten sie zur Legitimierung ihrer eigenen Herrschaft, indem sie sagten, ihre Herrschaft sei von Gott vorherbestimmt. Sie behaupteten, sie seien die wahren Hüter des Islams und ihre Herrschaft sei dazu bestimmt, Gottes Vorherbestimmung wahr werden zu lassen. Die Mu´taziliten konnten sich mit ihrer Anschauung im Laufe der Geschichte bis auf einige, wenige Akzente, deren Spuren bis heute überdauerten, nicht durchsetzen und wurden zurückgewiesen. Und auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder muslimische Denker wie Ibn Ruschd (1126 – 1198) oder Muhammad Shahrour (1938 – 2019) gegeben hat, die nicht zu müde waren, das Primat der Eigenverantwortung und der unabhängigen Handlungsfähigkeit des Menschen in den Vordergrund zu stellen, so sieht es aus, als würden weiterhin weite Teile der islamischen umma an der Vorstellung von der Vorherbestimmung Gottes festhalten.

Eine Analyse der Begriffe qadâ› und qadar anhand der Offenbarung Gottes wird uns zur Erkenntnis führen, dass die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Menschen von grundlegender Bedeutung in der Gottergebenheit und ein wichtiger Teil der Natur des Menschen ist.

Das arabische Wort qadâ› (قَضَاء) basiert auf dem Grundverb qadâ (قَضَى) und entspringt der Wurzel qaf-dad-ya. Es kommt in der Offenbarung Gottes an mehreren Stellen vor und nimmt je nach Verwendung und Gebrauch von Präpositionen mehrere Übersetzungsvarianten an:

  • قَضَى إِلَى (qadâ ila, Verb) =  jemandem etwas mitteilen

15:66 „Und Wir haben ihm diese Angelegenheit mitgeteilt (قَضَيْنَا إِلَيْهِ), dass der letzte Rest dieser Leute bei Tagesanbruch ausgetilgt werde.«

Bubenheim und Elyas

20:114 „(…) und gehe nicht in Eile an den Qur´an, ehe dir Seine Eingebung mitgeteilt wird (يُقْضَى إِلَيْكَ), (…).“

eigene Übersetzung

28:44 „Und du warst nicht anwesend auf der westlichen Seite, als Wir Moses diese Angelegenheit mitteilten (قَضَيْنَا إِلَيْهِ), (…).“

eigene Übersetzung
  • قَضَى (qadâ, Verb, i.V.m. أَجَل für „Frist“) = eine Frist setzen, im Reflexiv: eine Frist zum Ende kommen lassen

6:60 „Und Er ist es, der euch in der Nacht tot sein lässt, und weiss, was ihr am Tage wirkt; und Er bringt euch jeden Tag zurück zum Leben, damit eine (von Ihm) gesetzte Frist erfüllt sei (يُقْضَى أَجَلٌ). (…)“

Muhammad Asad

10:11 „Wenn nun Gott für die Menschen das Schlechte (,das sie durch ihr Sündigen erwerben,) in derselben Weise beschleunigen würde, wie sie (selbst das Kommen, dessen, was sie erachten als) das Gute beschleunigen würden, würde ihr Ende fürwahr sogleich kommen (لَقُضِيَ إِلَيْهِمْ أَجَلُهُمْ). (…)“

Muhammad Asad
  • قَضَى شَيْئًا  (qadâ shay´an, Verb) = eine Entscheidung treffen bzgl. einer Sache

2:117 „Der Urheber der Himmel und der Erde ist Er: und wenn Er will, dass ein Ding ist, (قَضَى أَمْرًا) sagt Er nur zu ihm: ‚Sei!‘ – und es ist.“

Muhammad Asad

20:72 „Sie antworteten: ‚(…) Entscheide (فَاُقْضِ) denn, was immer du entscheiden (قَاض) wirst. Du kannst nur in der diesseitigen Welt entscheiden (تَقْضِي).‘“

eigene Übersetzung
  • قَضَى بَيْنَ فُلاَنٍ و فُلاَنٍ (qadâ bayna fulanin wa fulanin, Verb) = zwischen jemandem und einem anderen richten

27:78 „Wahrlich (o gläubiger Mensch) dein Erhalter wird in Seiner Weisheit zwischen ihnen richten (يَقْضِي بَيْنَهُمْ) (…)“

Muhammad Asad
  • قَضَى عَلَى فُلاَنٍ (qadâ ´ala fulanin, Verb) = jemanden totschlagen

28:15 „(…) Moses versetzte diesem einen Faustschlag, sodass er tot niederfiel. (فَقَضَى عَلَيْهِ) (…)“

Azhar

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Übersetzungsmöglichkeiten für das Verb qadâ (قَضَى) eins gemeinsam haben: es geht um eine bewusst und willentlich herbeigeführte Handlung zur irreversiblen Zustandsänderung zum Positiven oder zum Negativen auf Basis eines real existierenden Vorgangs oder Sache. Für diese Handlung ist ein Bewusstsein und die Fähigkeit, selbstständig eine Entscheidung zu treffen, unabdingbare Voraussetzung.

Derjenige, der bei einem anderen Menschen den Tod herbeiführen möchte, ändert unwiderruflich seinen Zustand, in dem er sich dazu entscheidet, sein Leben durch Mord zu beenden. Der Richter in einem Streitprozess entscheidet in einer Angelegenheit, bei der sich zwei Parteien um einen bestimmten Streitwert streiten, indem er einen verbindlichen Urteilsspruch fällt, der Konsequenzen für die Beteiligten nach sich zieht. Das Festsetzen einer Frist basiert ebenfalls auf einer Entscheidung, die im Voraus gefällt wird, sodass sich eine Situation, auf die sie sich bezieht, unwiderruflich verändert, sobald die Frist abläuft. Das Beispiel in 20:72 bezieht sich auf Pharao und dessen Entschluss, Anhänger der eigenen Elite zu bestrafen, da sie sich ihrerseits Moses und seinem Aufruf zu Gott angeschlossen haben. Es ist ersichtlich, dass er ein negatives Beispiel für die Handlungsfreiheit darstellt und dass er sich aus freien Stücken zu dieser Tat entschieden hat, sodass er selbst für seine Taten verantwortlich gemacht wird (40:45-46).

Es handelt sich bei qadâ (قَضَى) demnach um eine Entscheidung, die eine bewusste Person trifft, ohne dass Gott in der Entscheidungsfindung involviert ist. Qadâ ist eine Tätigkeit, die an ein Ereignis oder an einer Sache gebunden ist, die auf einer Wirklichkeit basiert. Man entscheidet über nichts, was nicht der Wirklichkeit entspricht und über keinerlei Existenz verfügt. Eine Entscheidung basiert auf dem, was der Mensch wahrnimmt, und auf dem, was er dabei lernt. Qadar stellt die Grundlage für Entscheidungen dar. Dazu gehören in erster Linie die gesamte beobachtbare Existenz und ihre ihr innewohnenden Gesetzmässigkeiten. Um dies zu untermauern, widmen wir uns nun dem Begriff qadar.

Das Wort qadar (قَدَر) ist ein Substantiv, welches in direktem Zusammenhang mit dem Verb qaddara (قَدَّرَ) steht und aus der Wurzel qaf-da-ra‘ kommt. Dieses Verb ist nicht mit dessen Grundverb qadara (قَدَرَ) zu verwechseln, welches zwar eine gemeinsame Wortwurzel und damit einhergehend eine gleiche Grundbedeutung mit qaddara teilt, aber dennoch andere Aspekte beinhaltet. Eine umfangreiche Analyse von qaf-da-ra‘ würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Daher begnügen wir uns an dieser Stelle erst einmal mit einer groben Aufzählung der am meisten verwendeten Ableitungen aus der Wortwurzel qaf-da-ra‘, wie sie in der Offenbarung Gottes verwendet werden, inkl. deren möglichen Übersetzungen ins Deutsche:

  • قَدَر فُلاَنًا (qadara fulanan, Verb) = jemanden einschätzen, jemandes Stellenwert schätzen, z.B. in 6:91, 22:72 oder 39:67
  • قَدَرَ شَيْئَا (عَلَى فُلاَن) (qadara shay´an ´ala fulan, Verb) = etwas (jemanden gegenüber) beschränken/entziehen, z.B. in 13:26 oder 89:16
  • قَدَرَ عَلَى شَيْءٍ (qadara ´ala shay´in, Verb) = die Kontrolle/Macht über etwas/jemanden haben, z.B. in 14:18, 16:76 oder 57:29
  • قَدَّرَ شَيْئَا (qaddara shay´an, Verb) = etwas bemessen, eine Ausgestaltung definieren/vornehmen, das rechte Mass festlegen
  • القَدَرُ (al-qadar, Substantiv) = das (rechte) Mass (einer Sache)
  • القَدْرُ (al-qadr, Substantiv) = der Stellenwert2, z.B. in 6:91, 22:74 oder 65:3

Wichtig sind nun für den weiteren Verlaufs dieses Artikels die Punkte 4 und 5. Bei diesen Ableitungen von qaf-da-ra‘ geht es um die Bemessung beziehungsweise die Gestaltung der Dinge im Universum, die Gott erschaffen hat. Dazu schauen wir uns beispielsweise folgende Verse an:

10:5 „Er ist es, Der die Sonne zu einer Leuchte und den Mond zu einem Licht gemacht und ihm Himmelspunkte zugemessen hat (قَدَّرَهُ), damit ihr die Zahl der Jahre und die (Zeit)Rechnung wisst. (…)“

Bubenheim und Elyas

25:2 „Er, Dem die Herrschaft der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind genommen hat und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat und alles erschaffen und ihm dabei sein rechtes Mass gegeben hat (فَقَدَّرَهُ َقْدِيرًا).“

Bubenheim und Elyas

80:17-19 „Tod dem Menschen, wie undankbar er ist! Woraus hat Er ihn erschaffen? Aus einem Samentropfen hat Er ihn erschaffen und ihm dabei sein Mass festgesetzt (قَدَّرَهُ).“

Bubenheim und Elyas

56:58-60 „Was meint ihr denn zu dem, was ihr als Samen ausspritzt? Seid ihr es etwa, die ihn erschaffen oder sind nicht doch Wir die Erschaffer? Wir doch haben unter euch den Tod bemessen (قَدَّرْنَا). Und niemand kann Uns zuvorkommen. (…)“

eigene Übersetzung

23:18 „Wir haben vom Himmel Wasser nach Mass (بِقَدَرٍ) herabgesandt, das Wir auf die Erde fallen und in sie eindringen lassen. Wir können es auch versiegen lassen.“

Azhar

42:27 „Wenn Gott all seinen Dienern unbegrenzt geben würde, würden sie zügellos Untaten auf Erden begehen. Er gibt aber nach Mass (بِقَدَرٍ), wie Er will. (…)“

Azhar

54:49 „Wir haben alles nach Mass (بِقَدَرٍ) erschaffen.“

Azhar

Zum qadar gehört die Sonne, die Gott erschaffen und so bemessen hat, dass sie die richtige Dosis an Wärme und Licht liefert, um auf der Erde als einziger Planet in unserem Sonnensystem Leben zu ermöglichen. Der Mond dient seinerseits zur Stabilisierung der Erdachse, sodass die Jahreszeiten Jahr für Jahr ihre feste Reihenfolge durchlaufen können. So haben wir die Möglichkeit, anhand der Mondphasen konkrete Zeitabstände in Form von Monaten und Jahren zu definieren. Die Neigung der Erdachse um einen bestimmten Winkel sorgt dafür, dass wir einen stetigen Wechsel von langen Tagen und kurzen Nächten hin zu kurzen Tagen und langen Nächten und andersherum haben. Die Natur und alles, was in ihr existiert, unterliegen natürlichen Gesetzmässigkeiten, die Gott durch Sein umfassendes Wissen bis ins kleinste Detail gestaltet hat.

Gott erschuf den Menschen in einer derart komplexen und vielschichtigen Struktur, dass ihn die Wissenschaften bis heute noch nicht komplett entschlüsselt und seine inneren Zusammenhänge vollständig aufgedeckt haben. Neben biologischen Gesetzmässigkeiten unterliegt er auch psychischen und sozialen Eigenschaften. Auch die Philosophie und die Religion sind seit jeher damit beschäftigt, grundlegende Fragen hinsichtlich des Menschseins nachzugehen und zufriedenstellende Antworten zu finden, die den Sinn des Lebens oder die Beziehung Mensch-Seele erklären sollen. Auch ist die Frage nach der Beziehung Gott-Mensch elementar wichtig in diesen Überlegungen. All diese Aspekte des Menschseins lassen sich unter dem Begriff conditio humana zusammenführen, welcher wiederum Teil des qadar Gottes ist.

Der Tod ist ebenfalls Teil der conditio humana. Ihm kann sich kein Mensch entrinnen (21:35). Der Tod ist an konkreten Bedingungen gebunden, die in einem ausreichenden Mass vorhanden sein müssen. Zu diesen Bedingungen gehören Krankheit oder Schwäche, sowie unmittelbar von aussen einwirkende Faktoren wie Gewalt oder Naturkatastrophen. Gott bemisst für all diese Bedingungen die entsprechenden Gesetzmässigkeiten und schafft so die notwendigen Grundlagen für den Eintritt des Todes. Mord gehört nicht zum qadar Gottes, denn er ist die Entscheidung des Menschen (qadâ›). Denn Mord ist gemäss obiger Definition von qadâ› eine bewusst und willentlich herbeigeführte Handlung zur irreversiblen Zustandsänderung zum Negativen auf Basis des Lebens eines anderen Menschen. Es ist nicht Gott, der tötet, sondern allein der Mensch. Gott erschafft zwar den Tod, aber verbietet gleichzeitig Mord.

67:2 „(Er,) Der den Tod und das Leben erschaffen hat, damit Er euch prüfe, wer von euch die besten Taten begeht. (…)“

Bubenheim und Elyas

4:29 „(…) und tötet euch nicht gegenseitig (…)“

eigene Übersetzung

Demnach ist es allein der Mensch, der das Leben eines anderen Menschen verkürzt. Es ist nicht der Wille Gottes, dass jemand zu einer von ihm bestimmten Zeit und unter von ihm bestimmten Voraussetzungen sein Leben verliert. Vielmehr ist der Wille Gottes dahingehend zu verstehen, dass Er den Tod und seine Bedingungen überhaupt erst im Voraus erschaffen hat. Und genauso wie der Mensch das Leben eines anderen Menschen verkürzen kann, so ist er auch imstande, sein Leben verlängern. Dies ist ebenso möglich durch Voraussetzungen, die Gott erschaffen hat. Denn solange der Tod noch nicht eintritt, stehen die Möglichkeiten noch offen.

13:38 „(…) Jede Frist hat einen kitab3.“

eigene Übersetzung

16:61 „(…) Und wenn dann ihre Frist kommt, können sie (sie) weder um eine Stunde hinausschieben noch vorverlegen.“

Bubenheim und Elyas

Hier setzt zum Beispiel das Studium der Medizin an. Denn durch das Studium der Medizin ist der Mensch in der Lage, den menschlichen Körper kennen zu lernen und sich dem vollen Verständnis über seine biologischen und psychischen Eigenschaften immer weiter anzunähern. Je mehr er über den menschlichen Körper Bescheid weiss, desto eher kennt er die Faktoren, die den Tod begünstigen, und er entwickelt Massnahmen, um ihn hinauszuzögern. Er lernt vom qadar Gottes und trifft dementsprechend Entscheidungen (qadâ›), indem er beispielsweise gezielte Operationen durchführt oder zur Genesung die richtigen Medikamente einsetzt. Durch seine Entscheidungen gewinnt er an Erfahrung, auf deren Basis er künftig fundiertere Entscheidungen treffen kann. Das Feld des qadar Gottes weitet sich so in den Augen des Menschen stetig, da sich sein Wahrnehmungshorizont im Laufe der Zeit immer mehr erweitert.

Das Studium des qadar erstreckt sich über alle Formen der Natur-, Sprach- oder Geisteswissenschaften. Newtons Entdeckung der Gravitation und die Entdeckung der Elektrizität durch Charles du Fay und Benjamin Franklin beispielsweise ermöglichten den hohen technologischen Standard, den wir heute kennen. Dieser wäre nicht zu realisieren gewesen, wenn es nicht Menschen wie diese gegeben hätte, die sich dazu entschieden, die Gesetze der Natur zu erforschen und Erkenntnisse zu gewinnen, die zum Wohl der Allgemeinheit genutzt werden können.

Dies wäre ebenso unmöglich gewesen, wenn es grundsätzlich nicht zwei Dinge gäbe, die dem Menschen innewohnen: sein Bewusstsein und sein Erkenntnisvermögen. Jemand, der nicht lernt, entscheidet nicht. Das Erkenntnisvermögen, welches Gegenstand des nächsten Artikels sein wird, ist das Bindeglied zwischen qadâ und qadar. Oder anders formuliert: die Entscheidungs- und damit auch die Handlungsfreiheit ist die Kombination von qadâ und qadar. Der Mensch hat die Freiheit, selbst darüber entscheiden, wie er mit dem umgeht, was in Reichweite seiner Wahrnehmung liegt und wie er den Nutzen darin sieht. Genau hierin gründet seine ihm innewohnende Würde. Diese Definition steht im diametralen Gegensatz zur Vorstellung von der Vorherbestimmung Gottes, in der praktisch jegliches menschliche Handeln als von Gott vorprogrammiert gilt. Sie mindert Gottes allumfassendes Wissen aber in keinster Weise. Denn: Wissen bedeutet nicht Wille in dem Sinne, dass etwas zwangsläufig genauso passiert, wie man es eben will. Um den Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen deutlich zu machen, soll nun ein kleines Beispiel angeführt werden:

Nehmen wir an, Person P erhält den Auftrag, mit der Bahn von A nach B zu kommen. Damit Bahnfahren möglich wird, sind Schienen notwendig. Diese sind bereits durch Bahnchef C verlegt und verlaufen gradlinig von A nach B. C sieht mithilfe eines Hubschraubers aus der Vogelperspektive die Bahn, in der sich P befindet, und den Verlauf der Schienen. C hat umfassende Sicht und vollste Kenntnis über den Verlauf der Schienen. Er ist derjenige, der diese Infrastruktur aufgebaut hat. Person P hat keine andere Wahl, um nach B zu kommen, ausser solange zu beschleunigen, bis er B erreicht hat. Er kann von seiner Entscheidungsfreiheit keinen Gebrauch machen und macht das, was zur Erfüllung seines Auftrags zwangsläufig notwendig ist. Weder kann sich P auszeichnen, noch erwartet C eine Überraschung. Das Wissen von Bahnchef C bewahrheitet sich zwangsläufig. Die Tat von P ist vorherbestimmt.

Variieren wir nun dieses Beispiel ein wenig und geben P den Auftrag, von A nach D zu gelangen. Um von A nach D zu kommen, ist nun mehr als nur ein Weg möglich. Die Infrastruktur ist weiter ausgebaut und bietet nun viele Möglichkeiten mit unterschiedlich langen Strecken, Zwischenzielen, Verzweigungen und Zusammenführungen. C hat vollste Kenntnis über den Verlauf der Bahnschienen, er ist immer noch deren Erbauer. Nun hat P viele Möglichkeiten: entweder nimmt er den schnellsten, den kürzesten oder den längsten und umständlichsten Weg. Aber ganz egal, wie P sich entscheidet, es erwartet C keine Überraschung. Trotzdem hat P freie Hand. P zeichnet sich aus, wenn er sich vor der Fahrt entscheidet, die Infrastruktur zu studieren und so den besten und schnellsten Weg zu finden, während er, wenn er unvorbereitet oder voreilig eine falsche Entscheidung trifft, das Nachsehen haben wird.

Gott ist derjenige mit der vollständigen Erkenntnis über alles, was existiert. Sein Wissen ist grenzenlos. Es bedeutet aber nicht, dass unser Handeln deswegen prädestiniert ist. Wären unsere Taten haargenau vorherbestimmt bzw. wäre unser Handeln genauso einspurig verlegt wie im ersten Beispiel, wäre unsere Entscheidungsfreiheit nichts wert. Wir hätten keine Basis, an der wir uns auszeichnen können. Wir könnten von unserer Entscheidungsfreiheit keinen Gebrauch machen und wären quasi überqualifiziert. Eins der zentralen Elemente, was den Menschen ausmacht, würde nicht zur Geltung kommen und wir wären zu willenlosen Wesen degradiert. Das diesseitige Leben inkl. des qadar Gottes ist unsere Spielwiese, in dem wir uns regelrecht austoben, von dem wir lernen und uns gemäss unseren eigenen Entscheidungen und Handlungen auszeichnen können. Dies ist sowohl im positiven als auch im negativen Sinne zu verstehen. Diese Entscheidungsfreiheit ist jedem Menschen vorbehalten. Nicht einmal Gott greift in diese Freiheit ein.

30:4 „(…) Gottes ist die Verfügung vorher [vor dem diesseitigen Leben, Anm. d. Verf.] und nachher. (…)“

eigene Übersetzung

Der Mensch hat die Freiheit, sich für das Gute oder für das Schlechte zu entscheiden:

11:118-119 „Und wenn dein Herr wollte, hätte Er die Menschen wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Und sie sind sich stets uneinig, ausser denen, derer Sich dein Herr erbarmt4 hat. Dazu hat Er sie erschaffen.“

Bubenheim und Elyas

18:29 „Und sprich: Es ist die Wahrheit (in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit) von eurem Herrn. Wer nun will, der soll annehmen, und wer will, der soll ablehnen. (…)“

eigene Übersetzung

Es sind die Entscheidungen, die den Menschen ausmachen, ihn auszeichnen und ihm seinen Weg vorgeben. Seine Erfahrungen, die er mithilfe des qadar Gottes gewinnt, stellen dabei seinen Kompass dar. Das, was Gott von uns im Nachhinein aufnimmt, sind unsere Entscheidungen. D.h. der Mensch wird an seinen eigenen Entscheidungen gemessen. Über diese Entscheidungen müssen wir eines Tages Rechenschaft ablegen. Diese Entscheidungen lassen sich nicht auf das Religiöse beschränken, sondern umfassen alle Bereiche des Lebens, in denen der Mensch in seinem Leben aktiv ist.

45:29 „Dies ist unser Verzeichnis, das mit der Wahrheit über euch spricht. Wir liessen (alles) niederschreiben, was ihr zu tun pflegtet.“

eigene Übersetzung

Vielleicht wäre die islamische Geschichte heute eine andere geworden, hätte sich die Mu´taziliten dauerhaft durchsetzen können…

Fussnoten:

1 Die Mu´tazila war eine theologische Strömung des Islams und führte einen rational orientieren Diskurs über grundlegende islamische Lehren. Sie stellten dabei Willensfreiheit des Menschen und das Primat der Vernunft in den Vordergrund und vertraten u.a. auch die Auffassung, der Koran sei nicht ewig wie Gott, sondern wurde von Gott zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen erschaffen.

2 Zum Vers 97:1-2, in dem auch das Wort القَدْرُ (Stellenwert) folgt demnächst ein eigener Artikel.

3 Vgl. erster Artikel «Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied oder warum das Fasten nicht vorgeschrieben ist»

4 Das Konzept der Barmherzigkeit Gottes (arab.: رَحْمَة, rahma) wird ebenfalls demnächst behandelt.

Dieser Artikel ist auch als PDF verfügbar.


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