Am 8. März wird in vielen Ländern der Internationale Frauentag gefeiert, der vereinsintern die Frage nach einer Medienmitteilung aufwarf. Bei der Diskussion über die Vor- und Nachteile eines solchen Welttages wurde eine allgemeinere Auseinandersetzung über Geschlechterbilder und -verhältnisse und den Islam angestossen. Wir wollen eine vorurteilsfreie Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern fördern für mehr Gleichberechtigung und gegen Ausbeutung, da uns Gott als Verbündete fürs Gute erschuf.

Wir meinen, dass unsere interne Diskussion einen gesellschaftlichen Diskurs im Kleinen reflektiert, der ähnlich in vielen weiteren sozialen Kontexten geführt wird: In der Familie, unter Freunden, bei der Arbeit, in den Medien und der Politik. Auch bei uns gibt es diverse Meinungen, die durchaus emotional vorgetragen werden. Wir möchten Dir aufzeigen, wie wir verfuhren und zu welchen Ergebnissen wir durch gegenseitiges Vertrauen und gutem Willen kamen, unter anderem zu einer friedlichen und würdevollen Koexistenz verschiedener Ansichten. So wie Gott uns im Koran in Sure 3, Vers 103 erinnert:

«Und haltet alle an der Schnur Gottes fest, teilt euch nicht auf und gedenkt der Gunst Gottes über euch, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen vereinigte. […]»

Unser Gemeindeleben

Wir versuchen, der Botschaft des Korans entsprechend, alle gleichberechtigt miteinzubeziehen. Bei unseren Treffen beten alle gemeinsam, jeder dort, wo sie oder er sich am wohlsten fühlt. Vorbeten dürfen alle, was für manche Geschwister eine neue Erfahrung ist. Nicht alle sind sich in diesem Punkt einig, wobei unterschiedliche Wertvorstellungen respektvoll toleriert werden. Sowohl Frauen als auch Männer predigen bei den Freitagsgebeten, referieren zu verschiedenen Themen, sind im Vorstand vertreten und bringen sich aktiv ein. Aber auch bei uns zeigt sich, dass unsere weiblichen Mitglieder aktiver sein könnten, wären sie im Privatleben, im Beruf, in der Kinderbetreuung, Hausarbeit etc. nicht so eingebunden.[1] Sie leisten allgemein viel, was aber in der Gesellschaft zumeist als Selbstverständlichkeit gesehen wird. Wir arbeiten vereinsintern an günstigeren Bedingungen und diskutieren verschiedene Modelle, um Frauen eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Vereinsaktivität zu ermöglichen. Darüber hinaus sprechen wir uns regelmässig öffentlich für die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Frauen aus.[2]

Unsere Konsensfindung

Wir verwendeten die Methode der Konsensfindung, um unsere verschiedenen Ansichten in einer fairen Diskussion einzubringen. Grundlage dafür ist gegenseitiger Respekt und das Ernstnehmen der jeweiligen Haltungen, sowie die Reflektion über die eigene Haltung: Was ist für mich wichtig und weshalb? Wo bin ich bereit, auf Andere zuzugehen, um zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen? Konsens erfordert Empathie, was in gesellschaftlichen Debatten leider oft zu kurz kommt.

Unsere Auseinandersetzung

Einerseits wurde vertreten, dass der Frauentag ein feministisches und linkspolitisches Projekt darstelle, der mit dem Islam schwerlich zu vereinbaren sei, weil kein Geschlecht in den Vordergrund zu rücken und die Gleichberechtigung sowie -stellung der Geschlechter nicht nach den «westlich» geprägten gesellschaftlichen Normen vorgesehen sei. Andererseits wurde vertreten, dass die Gottergebenheit diese Gleichberechtigung und -stellung verfolge, viele Regelungen im Koran aus einem historischen Kontext heraus verstanden einen «progressiven» Geist ausdrücken und konkrete Schritte zur Verbesserung der Lage der Frauen auch über politische Mittel erreicht werden könnten.

Dazwischen kamen weitere Zwischentöne zur Sprache: Unsere weiblichen Mitglieder bekundeten, dass sie wütend, traurig, frustriert, ohnmächtig und verletzt darüber sind, dass sie in Moscheen immer noch als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Ihnen wird oft eine Abstellkammer zum Beten zugewiesen oder der Frauenbereich ist beim Festgebet von Männern belegt. So fühlen sie sich nicht willkommen, was an einem Ort, an dem alle Gott näherkommen möchten, vermieden werden muss. Dies ist kein Einzelfall, sondern ein Phänomen in vielen Moscheen und Gemeinschaften und muss diskutiert werden.

Ein weiterer Aspekt war, dass sich Frauen immer wieder auf ihren Körper und als Verführungssubjekt reduziert fühlen. Beklagt wird ein sexistischer Blick auf die Frauen in der muslimischen Tradition. Sie werden als Diamanten oder Perlen bezeichnet, aber wie Plastik behandelt. Kritisiert wird an der gesellschaftlichen Debatte bzgl. des Kopftuchs, dass jene Frauen, die sich entscheiden, ein Kopftuch zu tragen, immer noch als rückständig oder fremdbestimmt wahrgenommen werden. Uns missfällt, dass Kopftuch tragende Schwestern von verantwortlichen gesellschaftlichen Positionen mehr noch als andere Frauen ausgeschlossen werden.

Wir brachten eine Vielfalt an Meinungen zum Ausdruck, wonach wir Zeit brauchten, um uns zu sammeln, einander besser zu verstehen und die eigenen Positionen zu reflektieren.

Unsere gemeinsamen Positionen

Durch weitere Zweier- wie auch Gruppengespräche gelangten wir zu folgenden Positionen:

Wir nehmen am Spiel der Spaltung in gute («liberale, integrierte») und schlechte («konservative») Musliminnen nicht teil. Jede Frau hat Respekt verdient, egal wie sie sich kleidet, ob sie Erziehungsarbeit leistet oder berufstätig ist oder beides zusammen, ob sie mit einem Mann, einer Frau oder allein lebt. Jeder Lebensentwurf hat seine Gründe und über diese richten wir nicht, dazu haben wir kein Recht. Frauen wie auch Männer geniessen die Freiheit zur Selbstbestimmung und ein gesellschaftlicher oder individueller Druck gegen die Selbstbestimmung darf nicht ausgeübt werden.

Wir lehnen von Anderen auferlegte Kleidervorschriften ab, ebenso welche Körpermaße über unsere Attraktivität entscheiden.

Auch Männer leiden häufig unter zementierten Rollenbildern und einem kulturellen Druck zum autoritären Dominanzstreben. Viele können oder wollen dem Rollenbild des starken, hart arbeitenden Familienoberhaupts nicht nachkommen und leiden darunter, Ängste und Schwächen nicht zeigen zu dürfen. Männer dürfen nicht vorverurteilt und vorschnell als Täter abgestempelt werden, was oft bei Männern mit mehrfachen Diskriminierungserfahrungen, etwa aufgrund ihres Muslimseins, ihres Migrationshintergrunds und ihrer sozialen Benachteiligung der Fall ist.[3]

Der Koran ruft uns zu Harmonie zwischen den Geschlechtern und überhaupt zwischen den Menschen auf. Unser Glaube hat ein möglichst friedliches Miteinander in der Gesellschaft zum Ziel. Dabei steht die durch den Glauben erlangte Zufriedenheit unabhängig des Geschlechts im Vordergrund.

Wir setzen uns für eine vorurteilsfreie Zusammenarbeit und mehr Gleichberechtigung ein und kämpfen gegen die Ausbeutung, denn Gott erschuf uns als Verbündete (9:71), die sich für das Gute einsetzen sollen.

Im Kern fragen wir uns also: Was können Einzelne für das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der anderen Geschwister tun? Gottes Botschaft im Koran war zum Offenbarungszeitpunkt ein revolutionärer Fortschritt und ist dies auch heute noch für uns. Gott erschuf alle Menschen gleichwertig, jedem von uns hat er Fähigkeiten verliehen, durch die wir die Gesellschaft bereichern können. Gott fordert uns mehrfach auf, das Schlechte mit dem Guten zurückweisen (28:54) und Ungerechtigkeiten auf die schönste Art und Weise anzusprechen (14:24), in der Hoffnung, dass unsere Worte feste Wurzeln schlagen und die Zweige dieses Baumes bis in den Himmel reichen. Dies können wir für uns selbst und für eine Gesellschaft der Akzeptanz und Toleranz tun, eine Gesellschaft des Für- und Miteinanders. Das ist der Geist der Gottergebenheit (Islam), der uns motiviert auch Tage wie den Frauentag als Anlass zu nehmen, um über unser Verständnis von Geschlechterbildern zu reflektieren. Wir haben noch viel vor uns auf diesem Weg!

Der Frieden und Segen Gottes seien mit Dir!


[1] Auch im häuslichen Umfeld übernehmen Frauen primär die unbezahlte Pflege- und Betreuungsarbeit: In einer Studie gaben 54% der befragten Frauen an, den überwiegenden Teil der Kinderbetreuung zu übernehmen.

[2] Zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und zum Frauen*streik am 14. Juni in der Schweiz

[3] Der «Labelling-Ansatz» beschäftigt sich mit der selbsterfüllenden Prophezeiung durch unberechtigtes Abstempeln solcher männlicher Personen.



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